Jahrestagung 2019: Soziale Absicherung & Gender


Samstag, 30. März 2019
Kirchgemeindehaus Johannes, Wylerstrasse 5, Bern

Flyer
Flyer en français

Die Veranstaltung hatte zum Ziel, über die Aspekte der sozialen Absicherung mit Genderfokus zu informieren, auf Armutsfallen aufmerksam zu machen und für mehr Gleichstellung im Sozialversicherungssystem der Schweiz zu mobilisieren. Es wurden politische Forderungen diskutiert, entwickelt und Raum für Utopien geschaffen. 

Nach der Eröffnung der Tagung durch die Präsidentin der NGO-Koordination post Beijing hielt Heidi Stutz, Mitinhaberin des Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS, Bern sowie Bereichsleiterin Gleichstellung von Frau und Mann und Familienpolitik, ein Referat zur Logik des Sozialstaats und ihren Folgen aus einer genderperspektive. 

Es gibt drei Mechanismen der sozialen Sicherung: der Sozialstaat, das Einkommen zum Leben sowie Pflege und Betreuung. Dabei ist jedoch der unbezahlte Care-Bereich vorausgesetzt und nicht sozialversichert. Der Sozialstaat stützt sich auf eine bestimmte Verteilung der sozialen Rollen. Das Care-Regime in der Schweiz definiert also den Erwerbsausfall, nicht die Care-Bedürftigkeit als versichertes Risiko. In Bezug auf die soziale Absicherung heisst das, dass vielmehr die Frage danach, wer unbezahlte Care-Arbeit leistet der Faktor für Ungleichheit darstellt als Geschlecht und Zivilstand. Da Care aber vergeschlechtlicht ist, sind Frauen* viel stärker Benachteiligungen ausgesetzt in Bezug auf die finanzielle Absicherung und die Alterssicherung als Männer*. Heidi Stutz stellte darauf die Frage, wo wir als Gesellschaft hinwollten: Wollen wir eine sozialstaatliche Finanzierung von Care oder das sog. „Dual Earner/Dual Carer-Modell“? Diese Frage hat uns auch später noch auf dem Podium beschäftigt. Des Weiteren hat die Referentin nochmals betont, dass die Altersvorsorge nichts vergesse. Wer im Schweizer Modell über längere Zeit unter 50% arbeite, riskiere nach der Pensionierung, mit dem Existenzminimum auskommen zu müssen. Die Dynamiken im Lebensverlauf, also Alters- und situationsspezifische Problematiken müssten beachtet werden. Heidi Stutz plädierte für kleine Reformschritte wie die Senkung der Elterntarife in der Kinderbetreuung, die Einführung des Vaterschaftsurlaubs als Wegbereitung einer Elternzeit, Verbesserungen für betreuende und pflegende Angehörige, Verbesserungen bei der Nachholbildung für Erwachsene, Bildungschancen für in die Schweiz einheiratende junge Frauen* sowie eine Reform der Alterssicherung – höheres Frauen*rentenalter gegen die Verbesserungen bei der Absicherung.


Als zweite Referentin stand Susanne Rohner von SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz auf dem Programm. Als Vertreterin der Zivilgesellschaft hat sie als Teil der Schweizer Delegation an der diesjährigen UN-Commission on the Status of Women (CSW) in New York teilgenommen. Das Thema war „Sozialer Schutz, öffentliche Dienstleistungen und nachhaltige Infrastruktur“. Susanne Rohner konnte zum Auftakt von CSW an der Opening Session teilnehmen und hatte die Gelegenheit, Einblick in die Verhandlungen zum prioritären Thema zu gewinnen, die dann während der ganzen zweiten Woche weiterliefen und mit der Verabschiedung der Agreed Conclusions endeten. An den zwei Verhandlungstagen seien deutlich die sehr gegensätzlichen Positionen innerhalb der UNO-Mitgliedstaaten in Sachen Frauen*fragen zum Vorschein gekommen. Angesichts eines allgemein schwierigen globalen Kontexts in Sachen Frauen*rechten und Geschlechtergleichstellung sei es erfreulich, dass schlussendlich Agreed conclusions verabschiedet werden konnten, die auf Konsens beruhen müssen. Das Abschlussdokument enthalte viele Spuren dieser langwierigen Debatten und neben fortschrittlichen Paragraphen auch viele Relativierungen. 

Workshops

Der zweite Teil der Tagung startete mit Workshops zu den Themen Care-Ökonomie, Selbstständigkeit, Teilzeitarbeit und Intersektionalität/Mehrfachdiskrimineirung. 

Themen und Forderungen der einzelnen Gruppen:

Care-Ökonomie:

  • An wen Forderungen stellen?
  • Anerkennung von Care-Arbeit fördern und sichtbar machen, Verständnis für diese Arbeit
  • Belastung reduzieren und verteilen
  • Bedürfnis nach mehr Zeit für Hausarbeit
  • Umverteilung zwischen Frauen* und Männern*
  • Care als öffentliche Dienstleistungen genügend finanzieren, ohne Kostendruck
  • soziale Absicherung bzgl. unbezahlte Arbeit
  • unbezahlte Arbeit bezahlen?
  • soziale Kontakte fördern
  • Arbeitszeit verkürzen

Selbstständigkeit:

  • Mutterschaftsentschädigung unabhängig vom Erwerbseinkommen wie beim Militärdienst
  • Maximalsätze bei Mutterschaftsentschädigung erhöhen
  • Grundeinkommen
  • Betriebszulage bei Mutterschaft
  • Koordinationsabzug abschaffen
  • Berentung von Care-Arbeit
  • Zurechnung von Betreuungsgutschriften an den kleineren Lohn
  • Abschaffung der Ehepaarrente
  • Ausbau der AHV v.a. im unteren Bereich

Teilzeitarbeit:

  • Teilzeit wird Vollzeit: 30-35 Stundenwoche
  • Zivilstands-unabhängige Systeme
  • höhere Kinderzulagen
  • Element Umlageverfahren in der 2. Säule
  • existenzsichernde AHV
  • vereinfachter Zugang zu Betreuungsgutschriften
  • keine Gratisarbeit im Familienbetrieb, Bauernhof etc.

Intersektionalität/Mehrfachdiskriminierung

  • Studien, Wissenslücken schliessen
  • Öffentlichkeitsarbeit
  • Schweizweiter Aktionstag 
  • Empathie ermöglichen/auslösen
  • Einbezug in der Bildung
  • Quoten


Podiumsdiskussion

Auf dem Podium nahmen neben Heidi Stutz die Workshopleiterinnen teil: Elisabeth Bosshard, Präsidentin Business & Professional Women BPW Switzerland, Christina Werder, Sozialversicherungsfachfrau mit Eidg. FA, Angie Hagmann, Geschäftsleiterin der Interessenvertretung behinderter Frauen und Mädchen in der Schweiz avanti donne und Simona Isler von Women in Development WIDE Switzerland, Historikerin.



Die Workshopleiterinnen stellten die Resultate der Workshops vor. Dabei stachen ein paar Themen hervor, die von der Moderatorin, Regula Kolar, aufgegriffen wurden:
Grundeinkommen: Die Diskussion bewegte sich zwischen befürwortenden und klar ablehnenden Voten. Einig waren sich die Podiumsgäste darin, dass die Frage der unbezahlten Care-Arbeit mit dem bedingungslosen Grundeinkommen nicht gelöst wäre und dass es aus feministischer und intersektionaler Perspektive noch einige Punkte zu klären gäbe und das Modell, welches aktuell diskutiert wird, noch nicht befriedigend sei.
Care-Ethik (Verständnis, dass wir nicht lebensfähig sind ohne Care –> alle Menschen waren mal (als Baby) und werden wieder (im Alter, bei Krankheit, Beeinträchtigung,...) care-bedürftig.): Hier müssten grundsätzlich die Fragen diskutiert werden, was Care genau bedeutet, wie Care-Verhältnisse definiert sind, also auch wie eng oder weit in diesem Zusammenhang das System Familie gedacht wird. Welche Rolle schreiben wir dem Staat zu/ definieren wir als staatliche Aufgabe? Der Trend momentan ist, möglichst viel aus dem Einflussbereich des Staates herauszunehmen. 

Fazit: Die Definitionsmacht darüber, welchen Wert Care-Arbeit finanziell und ideell hat ist männlich – nicht weil es Männer sind, sondern weil Männer privilegiert sind. Wer bestimmt, was legitime Bedürfnisse sind?
Und um den Bogen zur sozialen Absicherung zu schliessen, sei folgendes zu bedenken: Soldaten sind in der Schweiz besser abgesichert als Mütter. Es braucht eine Umstrukturierung der Sozialversicherungen, eine Umverteilung.

Als Abschlussvotum wurde den rund vierzig Teilnehmer*innen folgendes Zita von Amelia Earhart aus dem Frauen*streikkalender auf den Weg gegeben: „Das schwierigste ist die Entscheidung, zu Handeln. Der Rest ist nur Hartnäckigkeit.“

avl dolmetscher machte die Simultanübersetzung Deutsch – Französisch www.avl-dolmetscher.ch